»[…] wahrer Friede wäre erst dort, wo alle Zeichen erfüllt und getilgt wären.« (Giorgio Agamben)
Victor Sloans Großvater war Mitglied des 1795 gegründeten nordirischen Oranier-Ordens. Die ›Loyal Orange Lodge No.1‹ wurde bei Portadown ins Leben gerufen. Der Orden war zunächst eine bäuerliche Geheimgesellschaft, der durch Gewaltakte katholische Kleinbauern bei der Landvergabe abschrecken wollte. Zu jener Zeit noch ein Geheimbund unter zahlreichen anderen, half die verschworene Gemeinschaft im Jahre 1798 den protestantischen Großgrundbesitzern, den Aufstand der im Oktober 1791 von dem ebenfalls protestantischen Rechtsanwalt Theobald Wolfe Tone (1763-1798) gegründeten und von der Französischen Revolution beeinflußten ›Society of United Irishmen‹ niederzuschlagen. Die United Irishmen hatten versucht, die Verbindung mit England zu lösen, die Bezeichnungen Protestant, Katholik und Dissenter durch die allen gemeinsame Bezeichnung Bürgerin und Bürger Irlands zu ersetzen und eine säkulare Gesellschaft zu schaffen. Mitte des 19. Jahrhunderts war der Oranier- Orden zu einer tragenden Säule des britisch-protestantischen Bürger- und Großbauerntums geworden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts benutzten die protestantischen Herren den Oranier-Orden, um Freiwillige für die nordirische, protestantische Miliz Ulster Volunteer Force zu rekrutieren, im Jahre 1932, um das katholisch-protestantische Bündnis gegen die Arbeitslosigkeit zu zerschlagen. 1934 erklärte Nordirlands erster Premier James Craig: »Ich bin in erster Linie Oranier, erst danach Parlamentsmitglied. Wir sind ein protestantisches Parlament und ein protestantischer Staat.« Es gelang, die Klassengegensätze zwischen protestantischen Kaufleuten, Unternehmern, Politikern und Arbeitern in einer Glaubens- und Schicksalsgemeinschaft aufzulösen. Der Orden sicherte seinen Mitgliedern einen Arbeitsplatz und garantierte ihnen durch seine enge Verquickung mit den unionistischen Kommunalverwaltungen eine stuädtische Wohnung. Der Orden ist eine vorwiegend soziale, keine politische Organisation. Auf den Sitzungen der 1500 Logen wird gesungen und gebetet, werden die Märsche vorbereitet, die vom späten Frühjahr bis zum letzten Samstag im August stattfinden. Doch statt des zu militärisch klingenden march (Marsch) sprechen die Oranier lieber von einem walk (Spaziergang).
Der wichtigste dieser ›Spaziergänge‹ findet jedes Jahr am 12. Juli (›The Twelfth‹) statt. Da werden Hemden gestärkt, die schwarzen Bowler-Hüte sowie die orangefarbenen Schärpen entstaubt, Sonntagsanzüge aus dem Schrank geholt. Am 12. Juli wird mit einem Engagement und einer Verve, mit Spielmannszügen und dem lauten Donner der Lambeg-Trommeln der Schlacht am Boyne vom 12. Juli 1690 gedacht, als sei diese erst im Jahr zuvor geschlagen worden. 1690 wurde Irland zur Austragungsstätte des bizarren Thronstreites zwischen einem Schotten und einem Holländer, in den halb Europa verwickelt war: 1688 hatte die Glorreiche Revolution den katholischen König Jakob (James) II. vom englischen Thron gefegt, der dessen protestantischem Schwiegersohn Wilhelm III. von Oranien (William of Orange) zugesprochen wurde. 1689 verließ Jakob II. sein französisches Exil und landete mit Hilfstruppen in Irland, wohin ihm 1690 sein protestantischer Widersacher mit dem Segen des Papstes und der Unterstützung des katholischen Spanien folgte. Die irischen Katholiken schlugen sich auf die Seite der Jakobiten, in der Hoffnung auf eine vollständige Wiederherstellung ihrer Rechte und ihres Besitzes. Bei der Entscheidungsschlacht im Juli 1690 erwies sich James jedoch als jener »Séamas a Chaca« (Hänschen der Hosenscheißer), als den ihn die gälischen Barden seit jeher verspottet hatten: Er floh als einer der ersten vom Schlachtfeld am Boyne. Aus dieser Schlacht gingen die Truppen des protestantischen Königs Wilhelm III. von Oranien als Sieger hervor. Seither wird Wilhelm liebevoll »King Billy« genannt. Nach diesem Triumph wurden mit dem ›Penal Code‹ eine Reihe von Gesetzen erlassen, mit denen das Recht der Katholiken auf freie Religionsausübung sowie auf Eigentum und wirtschaftliche Entwicklung beschnitten wurde. Bereits 1646 hatte Sir John Temple in seinem Buch The Irish Rebellion eine »wall of separation« zwischen Protestanten und Katholiken gefordert.
Victor Sloan selbst ist schon als Kind zu den Oranier-Märschen gegangen, später hat er nicht nur seine beiden Söhne, sondern auch seine Kamera, dann auch eine Videokamera zu den Paraden mitgenomme n. In Portadown, wo der Künstler seit langem lebt, ist es ohnehin schwer, ja unmöglich, sich den Oranier-Ritualen zu entziehen. Ihre walks dienen den Oraniern, wenn nicht zur Markierung ›ihres‹ Territoriums, so allemal als identitätsstiftende Rituale. Diese tragen zur Festigung der extrem ideologisierten Spannungsbeziehung mit durchgängig alltäglicher Bedeutung bei, die als sectarianism bezeichnet wird, ein Begriff, für den es keine adäquate deutsche Übersetzung gibt. Die sectarianistische Unterweisung aller Bevölkerungsmitglieder ist in Nordirland eine wesentliche Richtschnur für die praktisch-alltägliche Orientierung innerhalb und zwischen den beiden Communities. Der sectarianism wiederholt, bestätigt, erneuert ständig als Transportmittel die zugrundeliegende Materialitä t der Spaltung: Privilegien und deren Verteidigung hier, Aussperrung dort. Daher auch gemahnt dieses ›Verhältnis‹ so sehr an die Bedingungen, wie sie für die Apartheid Südafrikas kennzeichnend waren, am stärksten ausgedrückt in der scharfen Trennung der Lebenswelten. Diese war dem künstlich geschaffenen Gebilde Nordirland von Anfang an eingeschrieben, dieses als ethnischer Staat konzipiert, in dem eine ethnische Gruppe der anderen stets überlegen sein sollte. Daran hat sich bislang auch während des mehr und mehr ins Stocken geratenen Friedensprozesses sowie nach Unterzeichnung des Abkommens vom 10. April 1998 wenig geändert, im Gegenteil, die Trennung der Lebenswelten hat sich verstärkt. Selbst für dieses Abkommen kennen die beiden Communities verschiedene Bezeichnungen; für die eine ist es das Karfreitags-, für die andere das Belfaster Abkommen. Die Spaltung der Lebenswelten ist manifest und erlebbar in Portadown, an das Victor Sloan durch das irische Gespür für Lokalitäten, für Territorialität (sense of place) gebunden ist – eine Territorialität freilich, die er keiner Bevölkerungsgruppe exklusiv zugestanden sehen möchte. Am ersten Sonntag im Juli gedenken die Oranier Portadowns der Schlacht an der Somme von 1916, in der ein nordirisches Regiment der britischen Armee verheizt wurde. Ihr Gedenkmarsch führt von der Kirche in Drumcree, idyllisch im Grünen gelegen, über die Garvaghy Road ins Zentrum von Portadown. Seit Jahren kommt es wegen des Marsches, den die kleine katholisch-nationalistische Gemeinde, die in der Garvaghy Road lebt, nicht hinnehmen möchte, zu heftigen Auseinandersetzungen1, deren Spuren Victor Sloan uns in seiner ›Portadown‹ dc-Serie vor Augen führt.
Es waren in Nordirland arbeitende Künstlerinnen und Künstler, die lange vor dem Beginn des derzeitigen Friedensprozesses der sectarianistischen Trennung entgegenwirkten. In ihren Ateliers ist die Trennung längst aufgehoben, und mit ihren Arbeiten wird den nordirischen Verhältnissen immer wieder der Spiegel vorgehalten. Mit Beginn der »troubles«, wie der Krieg immer wieder euphemistisch genannt wurde, »gab es eine Bilderflut, mit der es umzugehen galt. Wir waren plötzlich mit Bildern konfrontiert«, so der Belfaster Künstler Jack Pakenham, »die wir nicht hätten ersinnen können: ausgebrannte Busse, behelmte Soldaten, Polizisten in Kampfausrüstung wie aus einem Science-Fiction-Film, Barrikaden, zerbombte Gebäude, zerfetzte Leiber, zugedeckte Mord opfer, maskierte Bewaffnete.«2 In Pakenhams Gedicht »The Blindfolded Figure Speaks« heisst es: »Die Straße explodiert in meinem Kopf / Die Splitter wachsen in meinen Augen.3 Ein l'art pour l'art wäre angesichts dieser erdrückenden Bilderflut ein völlig absurder Gedanke gewesen. Gleichzeitig standen die Künstlerinnen und Künstler jedoch vor der Frage, von welchen Bildern, Allegorien, Symbolen die Kraft ausgeht, dieses schreckliche Ensemble elender Verhältnisse zu bewältigen, wollten sie nicht zu bloßen Dokumentaristen werden oder bloß propagandistisch Stellung beziehen, wie es etwa die Belfaster Wandmaler taten, die mit ihren murals (Wandbildern) zudem auch die jeweiligen Wohnviertel tribalistisch markierten.
Victor Sloan richtet seine n Blick immer wieder auf die Geschichte, auf die politischen und kulturellen Verhältnisse in Nordirland, verarbeitet seine im Kontext der protestantischen Bevölkerungsmehrheit gesammelten Erfahrungen. Immer wieder auch hat er sich mit den Ritualen, den theatralischen Massenszenen der Oranier auseinandergesetzt. Darauf verweisen schon die Titel seiner Fotoserien: ›Drumming‹ (1985), ›The Walk, the Platform and the Field‹ (1985/1991),›The Twelfth‹ (1987), und ›Sham Fight‹ (1992). Auch die ›Walls‹-Serie sowie die ›Day of Action‹ betitelten Fotos sind diesem Kontext zuzurechnen.
Der Sham Fight findet jedes Jahr am 13. Juli (oder am 14. Juli, wenn der 12. oder 13. Juli auf einen Sonntag fällt) in der 300-Seelen-Gemeinde Scarva, Grafschaft Down, statt. Er bildet den Abschluß einer Parade der Royal Black Institution, einer Mitte d es 19. Jahrhunderts gegründeten Vereinigung mit etwa dreißigtausend Mitgliedern. Die Beziehungen zwischen dem Orange Order und den ›Blackmen‹ sind jedoch so eng, dass kaum von einer eigenständigen Organisation gesprochen werden kann.4 Der Sham Fight wird am Scarvagh House unter einem Kastanienbaum ausgetragen und damit die Schlacht am Boyne nachgestellt. Unter der Kastanie soll König Wilhelm III. auf seinem Weg ins Gefecht Rast gemacht haben. »Der Sham Fight ist wenig beeindruckend. Vier Reiter auf ihren Pferden und etwa acht Fußsoldaten, gekleidet in Kostüme des 17. Jahrhunderts, kommen auf das Feld, Wilhelm auf einem weißen Pferd, ein weiterer Reiter und vier Soldaten tragen rote, Jakob und seine Männer grüne Uniformen. Jede Seite führt eine Flagge mit sich. […] Die ›Könige‹ steigen vom Pferd ab, u nd es gibt einen kleinen Schwertkampf. Dann feuern die Fußsoldaten mit Schrot auf die jeweils gegnerische Flagge.«5 Beendet ist der Kampf, wenn die grüne Fahne von ihrer Stange herunter geschossen und King Billy zwangsläufig Sieger ist, bestätigt wurde, was den Zuschauer ohnehin gewiß war.
Der Schlacht am Boyne war ein Ereignis vorausgegangen, das sich tief in die kollektive Psyche der nordirischen Protestanten eingegraben hat, das sie noch heute von »Belagerung« reden lässt: »Still under siege«. Am 7. Dezember 1688 schlossen dreizehn protestantische Lehrjungen (Apprentice Boys) vor der anrückenden jakobitischen Armee unter Führung des Grafen von Antrim die Stadttore Derrys. Die Protestanten der Stadt waren starr vor Angst. Ein paar Tage zuvo r war in dem Ort Comber in der Grafschaft Down ein anonymer Brief gefunden worden. Er enthielt die Andeutung, dass sie massakriert werden sollten. Als die Tore der Stadt geschlossen wurden, befanden sich 30.000 Menschen innerhalb der (noch heute existierenden) Stadtmauern. Am 18. April 1689 forderten die jakobitischen Truppen die Stadt zur Kapitulation auf. Sie wurden mit Schüssen und dem Ruf »No surrender!« (Keine Kapitulation!) empfangen, und eine 105tägige Belagerung begann. In den folgenden Wochen wurden wiederholte Versuche, die Stadt zu stürmen, abgewehrt. Schließlich beschloss die Belagerungsarmee, die Festung Derry auszuhungern. Die 10.000 Todesopfer sind denn auch weitgehend Hunger, Krankheit, Seuchen und nicht kriegerischen Handlungen geschuldet. Die Erlösung kam am 28. Juli, als das englische Handelsschiff The Mountjoy die Blockaden auf dem River Foyle durchbrechen und die St adt mit Nahrungsmitteln und frischen Truppen versorgen konnte. Drei Tage später brachen die demoralisierten katholischen Belagerer ihr Lager ab und zogen davon.6 An jedem 12. August zelebrieren die Apprentice Boys, eine vom Oranier-Orden und der Royal Black Institution unabhängige loyalistische Organisation, die Verteidigung von Derry. Mit den Fotos seiner ›Walls‹-Serie hat sich Victor Sloan mit den Märschen in Derry und deren historischem Hintergrund sowie mit den Mauern als den visuellen Emblemen einer gespaltenen Stadt auseinandergesetzt. Er malte Stadttore symbolisch zu, wie etwa auf dem Foto ›Magazine Gate, Derry‹, auf dem er dafür ein Verkehrsschild mit der Aufschrift ›No Entry‹ hervor hob. Auf dem Bild ›Ferryquay Gate, Derry‹ hat Sloan das Tor mit einer Gitterstruktur überzogen.
Im November 1985 unterzeichneten die britische Premierministerin Margaret Thatcher und der irische Premier Garret Fitzgerald in Hillsborough das Anglo-Irische Abkommen, mit dem Nordirland gewisse Reformen versprochen und der Republik Irland ein Konsultationsrecht eingeräumt wurde. Obwohl mit dem Abkommen vordringlich die Absicht verfolgt wurde, durch die Aufwertung der Regierung in Dublin und der nordirischen Social Democratic Labour Party (SDLP) als Anwälte der katholischen Minderheit im Norden das politische Wachstum der mit der IRA verbundenen irisch-republikanischen Partei Sinn Féin einzudämmen und die Kooperation der Sicherheitskräfte sowie der Justiz beider Staaten im Kampf gegen die IRA zu verbessern, löste das Abkommen bei den Protestanten einen Proteststurm aus. Während eines von den nordirischen Loyalisten ausgerufenen ›Day of Action‹ (1986) gegen das Anglo-Irische Abkommen hielt sich Victor Sloan in dem östlich von Belfast gelegenen Seebad Bangor auf. Von einem Aktionstag, ohnehin intendiert, den Status quo zu verteidigen, ist auf den Fotos – Aufnahmen eines »day of inaction«, so der Künstler – freilich nichts zu sehen, der Strand menschenleer. Umso heftiger kommentiert Victor Sloan diese deprimierend wirkende Leere, indem er das Foto mit weißen Markierungen, wilden Gesten geschuldet, überzieht.
Walter Benjamin hat in seiner Kleine(n) Geschichte der Photographie (1931) ausgeführt: »Viele von denen, die als Photographen das heutige Gesicht der Technik bestimmen, sind von der Malerei ausgegangen. Sie haben ihr den Rücken gekehrt nach Versuchen, deren Ausdrucksmittel in einen lebendigen, eindeutigen Zusammenhang mit dem heutigen Leben zu rücken. Je wacher ihr Sinn für die Signatur der Zeit war, desto problematischer ist ihnen nach und nach ihr Ausgangspunkt geworden.« Auch Victor Sloan kommt von der Malerei. Erst 1981 begann er, sich systematisch der Kamera zu bedienen, sich von der abstrakten Malerei zu lösen. Lösen heißt dabei nicht, dass er die Malerei oder die Abstraktion gänzlich hinter sich gelassen hätte. Viele seiner Fotos sind abstrakte Bildkompositionen, vor allem die der ›Stadium‹-Serie, 1996 entstandene Schwarzweißfotos von nationalsozialistischen Relikten in Berlin, sowie die im Jahre 2000 entstandenen Farbbilder der ›Portadown‹-Serie. Roland Barthes schrieb in seinem Buch Die helle Kammer, das Wesen der Fotografie bestehe »in der Bestätigung dessen, was sie wiedergibt«.7 Gegen diese Bestätigung arbeitet Victor Sloan an. Bis zur Entstehung der ›Stadium‹-Serie war die Fotobearbeitung durch Zerkratzen, Be- oder Übermalung der Negative oder durch Manipulation der Abzüge quasi ein Sloansches Markenzeichen, sein zusätzliches Handwerkszeug eine Klinge oder eine Nadel, eine Bürste, ein Bleichmittel. Sloan ließ Bildteile verschwinden, hob andere hervor oder markierte sie, legte zwei Negative zur Belichtung übereinander. Sein Vorgehen hat Kritiker bewogen, den jeweiligen Interventionen eine Bedeutung zuzuschreiben – ein X stehe für ein Auslöschen, ein Kreis diene der Hervorhebung eines Details. David Evans hat zu Recht angemerkt, dass diese Interpretationsversuche zu kurz greifen. Indem Victor Sloan Hand an seine Negative lege, lege er auch Hand an sich selbst: »Sloan traktiert die Geschichte Nordirlands. Er ist sich dabei schmerzlich bewußt, dass er Beteiligter und Beobachter zugleich ist.«8 Sloan erklärte einmal: »Ich agiere nicht von einem protestantischen oder loyalistischen Standpunkt aus, sondern als menschliches Wesen. Aufgrund meiner Erziehung kann ich mich auf den Oranier-Background beziehen. Ich bin allerdings kein Oranier. Ich hinterfrage das alles, obwohl ich eine gewisse Bewunderung für ihren Glauben, ihre Entschlossenheit und Sturheit hege.«9 Jeder seiner Kratzer, jede Markierung auf einem Negativ, jede Kolorierung eines fotografischen Abzugs dient auch der Hinterfragung der eigenen Geschichte und Identität. Dabei blendet Sloan die Lebenswelten der ›anderen‹ Seite, die des katholisch-nationalistischen Bevölkerungsteils, völlig aus, nicht aus Gründen der Überheblichkeit, sondern aus Gründen des Respektes.
Victor Sloan mißtraut der Objektivität der Kamera so wie ihrer Neutralität, die eine trügerische ist, er verläßt das fotografische Terrain von ›Ehrlichkeit‹, ›Wahrheit‹ und ›Authentizität‹. Der après-coup, die Nachträglichkeit der Bearbeitung des belichteten Materials war Victor Sloan lange Zeit ebenso wichtig wie ein gutes Negativ. Ohne ein gutes Negativ könne ein Bild auch nicht gut werden, egal, wie es bearbeitet werde. Mit der Bearbeitung seiner Negative oder Abzüge schuf Victor Sloan kritische Kommentare zu den Ritualen der Oranier, zur protestantischen Tradition, die in einem zukünftigen friedlichen und auf einer neuen Gemeinschaft der Menschen begründeten Irland in dem Maße gewahrt werden wird, in dem sie sich ihres Überlegenheitsgebarens entledigt.
Victor Sloans Stärke ist die Fähigkeit, lokale Aspekte in einen universalen Kontext zu transzendieren und zu zeigen, wie die Vergangenheit die Gegenwart durchdringt. Die Vergangenheit sieht er dabei durchaus als globale und, ausgehend von der nordirischen Geschichte, nicht zuletzt als eine des Krieges. Dies zeigt sich an seiner auf einer 1992 von der Roten Armee verlassenen Basis in Polen entstandenen ›Borne Sulinowo‹-Serie ebenso wie an seiner in Berlin durchgeführten fotografischen Spurensicherung. Die in Polen geschossenen und dann manipulierten Fotos entstanden, als die Irisch-Republikanische Armee 1994 ihren einseitigen Waffenstillstand erklärte und somit den nordirischen Friedensprozess beschleunigen half. Hatte der kanadische Künstler Jeff Wall mit seinem Großbilddia ›Dead Troops Talk. A vision after an Ambush of a Red Army Patrol, near Moqor, Afghanistan, Winter 1986‹ (1991-1992) einer Auseinandersetzung mit dem Ende der Roten Armee, den spätkapitalistischen Triumph als rhetorischen Bombast reinterpretiert, so gerieten Victor Sloan mit seinen allegorischen ›Borne Sulinowo‹-Bildern erneut die sozio-politischen und kulturellen Phänomene Nordirlands in den Blick, aus der einstigen Militärbasis in Polen wurde Belfast, Derry, Portadown. Im polnischen Borne Sulinowo fand Victor Sloan alle Elemente des nordirischen Krieges und sei es auch nur auf den von den Sowjets zurückgelassenen Filmen oder Fotos: Soldaten, Helikopter, Stacheldraht, Munition, Absperrungen, Helme, ein Friedhof, Kreuze, Monumente. Die Bilder der ›Borne Sulinowo‹-Serie vermitteln einerseits ein Gefühl der Agonie, des Verfalls, mit ihnen antizipierte Victor Sloan aber zugleich die Entmilitarisierung Nordirlands.
Mit den Fotos der im Jahre 2000 entstandenen Portadown-Serie, die an Gemälde abstrakter Expressionisten erinnern, lenkt Victor Sloan den Betrachterblick auf Details, auf die Spuren der gewaltsamen Auseinandersetzungen, die seinen Wohnort in den vergangenen Jahren einmal jährlich weltweit in die Schlagzeilen geraten ließen. Indem er das Spektakel ignoriert und sich auf dessen Residuen konzentriert, schafft er eine gewisse Distanz zu den realen Ereignissen in Portadown, zwingt die Betrachter, genau hinzusehen, Übersehenes, Marginales wahrzunehmen. Da ist das Foto von der Außenmauer der Kirche von Drumcree. Nur ein paar dünne weiße Streifen, Überbleibsel übermalter Graffitti, ziehen sich durch die torfbraune Textur der Mauer. Auf einem zweiten Foto der Kirchenmauer wächst zart ein kleiner Farn aus der Wand. Mit Graffitti übersät ist das Plexiglas einer Bushaltestelle. »RAT« ist da spiegelverkehrt zu lesen – gemeint ist Billy Wright, genannt ›King Rat‹, der militante Anführer der Loyalist Volunteer Force (LVF), der von Mitgliedern der Irish National Liberation Army (INLA) im Hochsicherheitsgefängnis Long Kesh erschossen wurde. Ganz abstrakt und mit orangefarbenen und grünen bzw. mit schwarzen und roten Farbfeldern die Bilder, die Sloan in einem einst von Loyalisten bewohnten Haus schoss. Einer abstrakten Komposition gleich auch das Foto von der Unterführung in der Woodhouse Street, die ein katholisches von einem protestantischen Wohnviertel trennt. Gerade noch lesbar am unteren Bildrand ist der gesprühte Schriftzug Colin Duffy. Duffy, ein irischer Republikaner, war zweimal zu Unrecht des Mordes angeklagt worden. Seine Verteidigung hatte die engagierte Rechtsanwältin Rosemary Nelson übernommen, die 1999 von einem Loyalisten-Kommando ermordet wurde. Das Foto mit dem Titel ›Road, Drumcree, Portadown‹ ze igt die Spuren der massiven Steinquader, die jedes Jahr von der britischen Armee auf der Straße platziert werden, um den Marsch der Oranier durch die Garvaghy Road zu verhindern. Und schließlich ist da noch das Foto von einem Pfeiler, der mit Schrammen übersät ist. »Wie die Kratzer auf Sloans Negativen spiegeln die Schrammen die häßlichen Folgen des Sectarianismus wider.«10
Mit den Fotos der ›Augsburg‹-Serie, aufgenommen während eines Kurzaufenthaltes zur Vorbereitung seiner Ausstellung, stellt Victor Sloan erstmals mit einer Digitalkamera aufgenommene Bilder aus. Die Fotos verweisen auf Migrationslinien. Victor Sloan nimmt sich der Kultur von in Augsburg lebenden Ausländern an. Er knüpft dabei an seine Fotoserie an, die 1984 im Milieu vietnamesischer Bootsflüchtlinge im nordirischen Craigavon entstand. In Nordirland lässt sich beobachten, dass sich bei einem Schweigen der Waffen neue Konfliktlinien und Grenzziehungen von Rasse, Geschlecht, Kultur oder Sprache verschärfen. So gaben laut der an der Universität von Ulster im Jahr 1997 erstellten Studie Ethnic Minorities in Northern Ireland die hierfür befragten, in Nordirland lebenden chinesischen Migranten zu Protokoll, dass mit abnehmender paramilitärischer Gewalt Rassismus und rassistische Gewalt zunähmen.
Seine künstlerische Praxis hat Victor Sloan in den vergangenen Jahren erweitert, er hat angefangen, auch mit dem Medium Video zu arbeiten. Zunächst entstand im Kontrast und zur Ergänzung der großformatigen Schwarzweißbilder vom Berliner Olympiastadion (›Stadium‹) ein Video durch Abfilmen eines alten 8mm-Streifens, den der Künstler bei seinen Eltern gefunden hatte und der beim Abfil men in Flammen aufging. Er zeigt eine Szene aus einem Our Gang-Film. ›Our Gang‹ hieß eine aus Kindern bestehende Komikertruppe, die seit Anfang der 1920er bis 1940er Jahre in zahlreichen Kurzfilmen des Produzenten Hal Roach auftrat. Die Fernsehfassungen der Slapsticknummern von Our Gang wurden unter dem Titel The Little Rascals (Die kleinen Strolche) gesendet. Sloans Video erinnert nicht zuletzt daran, dass die faschistischen Rassenideologen die Beteiligung schwarzer amerikanischer Sportler an den Olympischen Spielen von 1936 propagandistisch auszuschlachten versuchten. Sein zweites Video schuf Victor Sloan parallel zu seiner ›Portadown‹-Serie. Dafür hatte er seine Videokamera auf ein Stativ montiert und mit nur einer einzigen Einstellung Reden von Oraniern in Drumcree aufgenommen. Das Rednerpult ist umgeben von Slogans (»Our cause ist just, our stand is honourable, our protest is dignified«), und Sloan ließ die Redner zu Wort kommen, ohne einen Schnitt vorzunehmen. Sie bieten ein so trauriges Bild, dass der Künstler Colin Darke schrieb: »Ich warne alle Betrachter, wie immer sie sich auch politisch verorten mögen, sich diesen monotonen Grabgesang länger als zwei Minuten anzuschauen.«11 Sloans jüngste Arbeit, ein für die Augsburger Ausstellung fertig gestellter 28minütiger Videofilm, trägt den Titel Walk. Darin finden sich die Oranier gespiegelt, sie marschieren und spazieren in Zeitlupentempo aufeinander zu, nur um auf einer Mittelachse zu verschmelzen, sich in den Himmel zu verflüchtigen. Sloan verweist mit diesem Film darauf, dass sich die ohnehin archaisch anmutenden Rituale der Oranier erschöpft haben, auch fü fr sie selbst. Der Künstler spricht von einer zunehmenden »weariness« (Ermüdung). Walk ließe sich hier übersetzen mit »abtreten«.
Jürgen Schneider, Berlin, 2004
1) S. hierzu Pit Wuhrer, The Spirit of Drumcree, in: Schneider, Jürgen u. a. (Hrsg.) irland almanach I. – Münster: Unrast Verlag, 1999; ders., Die Trommeln von Drumcree. Nordirland am Rande des Friedens. – Zürich: Rotpunkt Verlag, 2000; Chris Ryder u. Vincent Kearney, Drumcree. The Orange Order's Last Stand. – London: Methuen, 2001 2) Jack Pakenham, Notes on Painting (1978), zit. n. Schneider, Jürgen, Die Strasse explodiert in meinem Kopf. Zu den Gemälden Jack Pakenhams, in: Jack Pakenham (Katalog). – Berlin: front art und galerie + editon caoc, 1992 (unpaginiert) 3) Jack Pakenham, The Blindfolded Figure Speaks, in: ders., The Last Day. – Swanage: Dollar of Soul Press, 1981 (unpaginiert) 4) Vgl. Dominic Bryan, Orange Parades. The Politics of Ritual, Tradition and Control. – London: Pluto Press, 2000, S. 113 5) ibid., S. 152/53 6) Zur Belagerung von Derry s. Ian McBride, The Siege of Derry in Ulster Protestant Mythology. – Dublin: Four Courts Press, 1997 7) Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. – Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag, 1985, S. 95 8) David Evans, Sidestepping the Obvious, in: Creative Camera, London, April/Mai 1994, S. 48 9) Zitiert nach Colin Darke, Scratching at the surface, in: Derry Journal, 14. Februar 1995 10) Colin Darke, Concrete Manifestations, in: Source, Nr. 25, Winter 2000, S. 54 11) ibid.
Walk: Victor Sloan Kulturbüro der Stadt Augsburg anlässlich des Augsburger Hohen Friedensfestes 2004 |
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